Montag, 6. Juni 2005
Kinobesuch
Noch immer ist ein Kinobesuch ein Erlebnis. Es gibt verschiedene Arten von Kinos. Da ist zum Beispiel das kleine Lichtspielhaus um die Ecke mit veralteter Technik in dem nur jeder zweite Klappsitz noch vertrauenswürdig genug ist einen Ausgewachsenen aufzunehmen, und meist nur einen Angestellten beschäftigt, welcher alle Aufgaben, die im Kino anfallen, übernimmt. Oder es handelt sich um Kinomultiplexe, die mehr einem Flughafen gleichen meist mit neuester aufwendiger Technik und einem ganzen Stab von Mitarbeitern, alles Facharbeiter. Ich war in einem Kinomultiplex. Der Einlass ist mehrstufig, Kauf der Karten an der Kasse, erste Kontrolle, zweite Kontrolle, Platzanweiser. Ich vermisse die Metalldetektoren, die ich von Flughäfen kenne und das Sicherheitspersonal, dass einen immer so nett begrabbelt. Aber es gibt eine große Zahl die Phantasie anregender Hinweisschilder. Voller Vertrauen verlasse ich mich auf die Anweisungen des Personals, was prompt dazu führt, dass ich nicht ganz in dem Kinosaal lande, in dem der Film vorgeführt wird, den ich gerne sehen möchte. Offenbar hatte der Kinosaalanweisungsspezialist den Film schon gesehen, war mit unserer Wahl nicht einverstanden, beschloss unsere Geschmacksverirrung zu ignorieren und kurzer Hand zu korrigieren. Nach einer kurzen 45 Minuten dauernden Einführung in die neuesten Entwicklungen internationaler Produkte, beginnt der Film. Da das Epos im 16. Jahrhundert spielt, bin ich durch das Auftauchen von Autos auf der Leinwand verunsichert. Ist das schiefgelaufenes Productplacement? Auch die Mode habe ich mir anders vorgestellt zu dieser Zeit. Gab es damals wirklich schon Nike Turnschuhe? Wir beschließen auf unserer Filmwahl zu bestehen. Nach einem kurzen schmerzfreien Wechsel in einen glücklicherweise ohne Laufband zu erreichenden Kinosaal, können wir aufatmen. Alles im Film wird mit Muskel, oder Segelkraft bewegt. Ein gutes Zeichen. Da der Film sich nicht wie erhofft entfaltet, man sollte eben dem Fachpersonal mehr Vertrauen schenken und sich nicht über die Anweisungen oder Vorschläge leichtfertig hinwegsetzen, beschäftigen uns andere als im Film angesprochene existentielle Fragen, ausgelöst durch andere zu spät Kommende. Wie verhält man sich korrekt im Kino? Lässt man beim Hindurchschlängeln durch eine Reihe jemanden eine Blick auf den Knackarsch werfen oder ist es besser das Geschlechtsteil in Augenhöhe zu präsentieren? Ich habe dazu ein wenig Literatur gesammelt. Die Meinungen gehen nicht wirklich auseinander. Wahrscheinlich haben alle von einander abgeschrieben. Dennoch schaue ich voller Neid auf einige der Formulierungen:

1) Drehe denen nicht den Rücken zu, an denen du vorbeischreitest. Wer seinen Platz aufsucht oder in der Zwischenpause in das Foyer geht, soll dies in der Art und Weise thun, daß er seinen Nachbarn zur Rechten oder Linken seine schönere Seite, die in den meisten Fällen mit der vorderen identisch ist, zuwendet. Als Herr, während man sich durch die Reihe hindurchschiebt, beide Hände in die Hosentaschen zu stecken und dabei gleichzeitig die Rockschöße hinten soweit auseinander zu nehmen, daß eine Fläche sichtbar wird, auf der die Buren und Engländer bequem eine männermordende Schlacht ausfechten können, ist mehr als unanständig.

2) Suche es zu vermeiden, ihnen auf die Hühneraugen zu treten. Dank der spitzen Stiefeln, die die strengste aller Gebieterinnen, die Frau Mode, geborene Laune, für uns erfunden hat, trägt heutzutage jeder eine Achillesferse spazieren, die meistens sich auf dem großen Zeh befindet. Selbst Dorfschullehrer, die an Geduld ihresgleichen suchen und ohne zu klagen und zu stöhnen im Tragen von Leiden schwerlich übertroffen werden können, verwandeln sich in rasende Ajaxe, wenn ein Herr, der über ein Körpergewicht von 150 Kilo verfügt und einen Fuß von der Ausdehnung eines Ruderkahns sein eigen nennt, ihnen mit bewunderungswürdiger Kraft und Ausdauer einen eingewachsenen Nagel noch tiefer in das Fleisch hineindrückt. Es ist dies ein Schmerz, im Vergleich mit dem selbst eine Operation beim Zahnarzt ein liebliches Gefühl ist, und niemand darf es einem getretenen Wurm verdenken, wenn er sich an seinem Peiniger vergreift. Nur solche, die sich verloben wollen, verlobt oder ganz kurze Zeit verheiratet sind, dürfen sich zum Zeichen ihrer Zuneigung gegenseitig auf die Füße treten. Bei allen anderen darf man diese Zärtlichkeit nicht ausüben. Hat man jemand den halben Fuß abgetreten, so hat man in höflicher Art und Weise seine Ungeschicklichkeit zu entschuldigen. Sehen wir, daß der, den wir traten, sich vor Schmerzen auf seinem Stuhl krümmt, und seine Beine, damit ihm ähnliches nicht wieder passiert, in die Höhe gezogen hat, so wäre es mehr als thöricht, ihn fragen zu wollen: »Habe ich Ihnen weh gethan?«
Damen, die einem Herrn oder einer Vertreterin ihres Geschlechtes auf den Fuß traten, pflegen sich sehr häufig gar nicht oder doch nur sehr oberflächlich zu entschuldigen, und doch kann auch der Tritt einer Dame zuweilen von Folgen begleitet sein, um die niemand den Gepeinigten beneidet.
Kinder, die mit den Erwachsenen im Parkett sitzen, sollten angehalten werden, auch in den Zwischenpausen auf ihrem Platz zu verbleiben, denn sie besitzen ein hervorragendes Talent darin, nicht auf dem Fußboden, sondern auf den Füßen ihrer Mitmenschen spazieren zu gehen.
[Baudissin: Spemanns goldenes Buch der Sitte. (vgl. Baudissin-Spemann, S. 517)]


Auch im Kino könnten Zuspätkommende sich bei den bereits Sitzenden entschuldigen und sich mit der Vorder-, nicht mit der Rückfront an ihnen vorbeischlängeln, seitlich Sitzende auf mehrfache Bitten der Platzanweiserinnen zur Mitte aufrücken und so die Füllung der Reihen vereinfachen,
Damen ihre Monstrehüte abnehmen, Liebespaare auf ein zärtliches Tête-à-tête verzichten und damit den hinter ihnen Sitzenden einen ungestörten Blick auf die Leinwand ermöglichen (die Kinositze stehen nämlich »auf Lücke«),männliche und vor allem weibliche Besucher ihre Konfekt-, Schokolade-, Bonbon- und Kaugummipackungen vor Beginn des Hauptfilmes öffnen, anstatt während der ganzen Vorstellung mindestens die umsitzenden fünfzig Besucher durch ununterbrochenes Geknister zu stören, die Besucher beiderlei Geschlechts darauf verzichten, ihrer Umgebung das Verständnis des Films durch geistreiche Kommentare wie »Jetzt küßt er sie!«, »Du, guck mal, wie der schießt!« oder »Mensch, Errol, paß auf, hinter dir!« zu erleichtern, die Besucher schweigen (eine nicht geringe Anzahl von Leuten ist nämlich - erstaunlicherweise! - in die Vorstellung gegangen, um dem Geschehen auf der Leinwand zu folgen, und nicht, um sich eine halbe Stunde lang die Beschreibung des Krachs anzuhören, den der Nebenmann im Büro hatte und unbedingt während der Vorstellung seiner Begleiterin erzählen muß), alle Anwesenden berücksichtigen, daß sich die Mehrzahl der Besucher den Genuß eines bescheidenen und verhältnismäßig billigen, vielleicht sogar des einzigen Vergnügens leisten, nicht aber sich über die Rücksichtslosigkeit anderer ärgern möchte.
[Graudenz: Das Buch der Etikette. (vgl. Graudenz-Etikette, S. 285-286)]

ZU BEACHTEN
Den Kunstgenuß des anderen nicht durch Schulmeistern stören.
Keine extremen Urteile - weder gute noch schlechte - herausposaunen.
Toleranz ist ein Kind der Phantasie.
[Leisi: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden?.(vgl. Leisi-Sprach-Knigge, S. 95)]

Wenn man die Reihe, in der man seinen Sitzplatz weiß, betritt, nachdem schon andere dort Platz genommen haben, so wendet man sich an die erste Person, die in dieser Reihe sitzt, und fragt höflich: »Gestatten Sie, bitte?« Handelt es sich bei den Neuankömmlingen um ein Paar, so wird der Herr diese Frage stellen. Die angesprochene Person wird sich daraufhin erheben, vielleicht sogar aus der Reihe heraustreten oder nur die Füße beiseite stellen, damit man leichter passieren kann. Man geht nun durch, nicht ohne sich zu bedanken und vor allem mit dem Gesicht zu dieser und den folgenden Personen gewandt. Da meist alle, die in der betreffenden Reihe vor einem sitzen, aufstehen müssen, damit man seinen Platz erreichen kann, wird man bis zum Schluß unter dem steten Gemurmel von »Danke sehr, danke vielmals, ...« vorwärtspendeln, bis man seinen Platz erreicht hat. Der Herr wird vorangehen und den »Weg bahnen«, die Dame nimmt den rechten Sitzplatz ein. Es sei denn, der linke bietet eine bessere Sicht, dann wird der Kavalier natürlich tauschen und sich, wie sonst auch, erst setzen, nachdem sich seine Begleiterin niedergelassen hat.
[Schäfer-Elmayer: Der Elmayer. Gutes Benehmen gefragt. (vgl. Schäfer-Elmayer, S. 196-198)]

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