Freitag, 13. Mai 2005
Tanzstunde
Rhythmus. Zwo drei Wiegeschritt. Herrlich. Unsere Luxuskörper gleiten zu Musik die von Schelllackplatten zu stammen scheint über das Parkett. Ich und meine Partnerin bilden eine einzige Einheit. Zwo drei Wiegeschritt. Wunderbar. Der Oberkörper gerade, der Bauch eingezogen. Harmonie. Gottgleich schieben wir unsere Körper auf der Tanzautobahn entlang, welche wie wir gelernt haben zweispurig ist. Spurwechsel stellen die hohe Kunst dar und sind eindeutig erwünscht. Wir praktizieren den vollkommenen Tanz und das nach nur zwei Übungsstunden. Genial. Alle Blicke sind auf uns gerichtet. Ballhäuser wir kommen. Jetzt nur noch den gleichgültigen Gesichtsausdruck mit Weltschmerz geübt. Die Augen nur halb offen. Nehmt euch vor uns in acht. Wir werden Tanzgeschichte schreiben. Purer Sex das Ganze. Zwei Naturtalente haben sich zu einer perfekten Symbiose zusammen gefunden. Zumindest bis der Blick in den eine ganze Wand einnehmenden Spiegel fällt auf ein Paar, das GENAU die gleichen Bewegungen macht wie wir. Etwas stimmt nicht mit den beiden. Alles sieht sehr bemüht aus. Von Grazie keine Spur. Es ist schwer den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen, sich in der Balance zu halten. Er versucht wohlerzogen seine in großen Schuhen steckenden Plattfüße graziös an ihr vorbei zu manövrieren, schafft es aber trotzdem - immerhin manchmal im Rhythmus - AUF ihre Fußspitzen zu treten. Der Oberkörper und Arme sind steif als würde ein Kellner ein Tablett mit 6 Menüs durch die Gegend manövrieren. Man hört die Scharniere knacken.

Ein klassischer Fall eines Konfliktes von Faktizität und Transzendenz im Sinne von Sartre, fürchte ich. Sie lächelt noch. Es bilden sich allerdings Schweißperlen auf ihrer Stirn. Ich habe ein wenig Mitleid.

Als nächstes steht der in bester Swingertradition gehaltene Partnertausch an. Es gibt deutliche Widerstände dagegen bei allen Beteiligten. Alle sind ein wenig nervös. Wissen wir doch nicht wer uns als nächstes wie treten wird. Ein wichtiger Rat folgt noch vom Lehrer. Haltet Abstand. Redet nicht gleich über eure Mutter. Was er damit meint erschließt sich mir nicht unmittelbar. Ich bin aber fest entschlossen mich daran zu halten und frage mein neues Opfer nach ihrem Vater. Sie möchte darüber nicht mit mir reden. Überhaupt klappt das gleichzeitige Reden und Tanzen nicht besonders gut. Vielleicht muss dies im Takt geschehen. Aber wo ist er hin dieser Takt. Vielleicht sollte ich es mit Rap versuchen. Oder ich singe ein wenig. Warum sieht mich meine Tanzpartnerin so befremdet an? Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt für eine Pause gekommen. Wir sollten ein wenig im Takt stehen. Und gut aussehen.

Um den vielfältigen Lebensentwürfen gerecht zu werden, tanzen diesen Tanz nicht unbedingt ein Mann und eine Frau sondern eine führende Person und eine folgende. Ich bin ein Führender allerdings renne ich meist hinter meiner manchmal Folgenden hinterher. Führung ist alles. Es gibt streng geheime Zeichen, die der Führende erlernen muss und an die Folgende kommunizieren soll, die sie dann nur wenn Sie Lust hat befolgen muss. Es gibt Kommunikationsprobleme. Wie im richtigen Leben. Beim Tango ist das aber egal. Alles ist erlaubt. Wie beim Jazz. Außer dem anderen absichtlich ein Bein stellen.

Noch ein wenig Literatur zum Thema:

»Die jungen Mädchen wanden sich im Tango wie Würmer
an unsichtbarer Angelschnur, die von den Lorgnons
der Mütter hing. Knapp vor dem Allerletzten schien
diese Schnur immer mit einem Ruck anzuziehen, und
die Begattung ging fehl.«
[Werke und Briefe: 1923. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 2949 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 349) (c) Rowohlt Verlag]

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